Dies ist die Geschichte eines Menschen, der den Krebs überlebt hat – meine Geschichte. Viele haben den Krebs überlebt, das ist nichts Besonderes, und doch liest oder hört man nur selten von solchen Erlebnissen. Krankheit ist eben ein schwieriges Thema, das uns trotzdem ständig begleitet.
Es ist die Geschichte einer höllischen, existenziellen Krise, einer grandiosen Erfahrung, eines puren Schmerzes, einer Neugeburt.
November 1991. Es schreit in meinem Kopf. Ich sitze in einem Behandlungszimmer des Krankenhauses; ein Arzt sticht mir irgendetwas ins Ohr, aber das Hämmern hört nicht auf. Mein Körper war bereits so geschwächt von der Krankheit, die mir noch nicht bekannt war, daß diverse andere Beschwerden hinzukamen – in diesem Fall eine Mittelohrentzündung. Ich saß da, spürte meinen Körper nicht mehr – nur noch Schmerz. Ich war Schmerz. Ein ganz kleiner Teil in mir registrierte diese Erfahrung als absolut ungewöhnlich – ansonsten pure Verzweiflung.
Nach der Behandlung gehe ich die Treppen zum Eingang hinunter, fühle mich unendlich allein und am Ende. Dort unten sitzt mein Vater. Plötzlich bin ich so tief berührt, daß da jemand auf mich wartet, in diesem unendlichen Schmerz. Tränen laufen mir übers Gesicht – ich hatte jahrelang nicht mehr weinen können – und der Schmerz ist für kurze Zeit vergessen. Ich bin einfach nur glücklich, daß da ein liebender Mensch ist, der jetzt für mich da ist. Wir fahren heim. Eigentlich wollte ich meine Eltern nur besuchen, als das Ohr sich meldete…
Andere Beschwerden war immer stärker werdende Schmerzen in den Beinen. Es begann ganz unten, in den Waden, und kroch dann nach oben. Nichts schien helfen zu wollen. Irgendetwas schien die Wirbelsäule zu beeinträchtigen. Natürlich, dachte ich, klar, nie hatte ich Sport gemocht, das kommt sicher vom ewigen Sitzen – tatsächlich wurde Bandscheibenvorfall vermutet. Aber keine Fango oder andere Behandlung half. Man hatte meinen Körper fein säuberlich in Scheiben zerlegt – jedenfalls im Computer -, als ich durch den Kernspintomographen gefahren wurde. Die Ärztin hatte große Augen gemacht und Mühe, mit mitzuteilen, daß Sie mir die Ergebnisse nicht sagen dürfe, weil es nicht sicher ist. Ich spürte, daß da mehr auf mich zukam, war wütend, weil man es mir verschwieg – heute verstehe ich diese Haltung. Ein paar Tage später wurde mir eine kleine punktuelle Probe aus dem Lendenbereich entnommen – und noch immer vermieden, zu erwähnen, was denn sein könnte.
Eine Woche später, irgendwann in der Adventszeit – ich war wieder bei meinen Eltern – wurden die Schmerzen in den Beinen unerträglich. Zugleich fühlte ich meine Zehen nicht mehr, knickte beim Stehen ein. Alles war zuviel. Wieder fuhr mich mein Vater ins Krankenhaus. Sofort wurde ich in ein komplexes Gerät gesteckt, das mich wieder laut summend überflog. Dann lag ich, durch ein paar Tabletten beruhigt, und erfuhr den Grund der Probleme: Metasthasen hatten sich in die Lenden und in die Wirbelsäule vorgearbeitet und den Nervenstrang so weit abgedrückt, daß ich kurz vor einer Behinderung stand. Man müsse mich noch in der selben Nacht operieren – eine Lähmung der Beine war nicht ausgeschlossen.
Anschließend Chemotherapie. Der Feind hieß: Non-Hodhgin-B-Lymphom – schnell wachsender bösartiger Lymphkrebs. Nun konnte ich nur noch geschehen lassen, was geschehen möge. Fast lächerlich, daß ich mir noch sehr gewissenhaft überlegte, ob ich wirklich die Operation erlauben solle, kurz vor einer Querschnittslähmung.
Narkose. Operation, sechs Stunden lang, wie ich hörte. Irre Schmerzen in der Wirbelsäule. Wochenlang lag ich seitlich, mußte wieder neu laufen lernen, nie wissend, ob es auch gelingen würde. Die nächsten Wochen lag ich also, mal rechtsseitig, mal linksseitig im Bett und ließ geschehen, erduldete. Neben mir in wechselnden Abständen ältere und jüngere Krebspatienten – die vier mir vertrautesten überlebten alle diese Krise nicht. Meine Chemotherapie hatte angefangen, vier Tage lang tropfte eine für meine Zellen sicher nicht glückverheißende Flüssigkeit in die Venen. Ein Teil resignierte völlig, ein Teil fragte nach dem Sinn, ein kleiner Funke nahm einfach nur wahr, schien auf irgendwas zu warten. Einige Freunde besuchten mich, konnten den Anblick oft nur schwer ertragen – ich wog noch 50 Kilo, fühlte mich immer mehr verschwinden… An einem Tag schienen die Haare meinen Kamm nicht mehr verlassen zu wollen, gingen einfach mit: Haarausfall, drei Tage später Glatze.
Nun geschah eine eigenartige Verdichtung von tiefem Schmerz und tiefer “Erlösung”: Ich hing mal wieder an der Nadel, all mein Herumgedenke nach dem Warum hatte zu nichts geführt, als mich wieder diese Verzweiflung, diese ohnmächtige Wut überkam. Eine Krankenschwester kam, nahm meine Hand (absolut unglaublich, mit wieviel Liebe und Freude manche junge und süße Mädchen ihre Arbeit machen, den Menschen so viel Trost spenden, und ihnen dies oft noch nicht einmal bewußt ist).
Und wieder lösten sich Tränen. Die ganze Anspannung, Wut und Trauer schien auf einmal herauszufließen. Ich ließ es zu, floß selbst, wurde zur Wut, zur Trauer. Irgendwie schien das alles intensiv und restlos herauszubrechen, ich nahm es wahr, wütete und weinte weiter, immer mehr und mehr Energie schien die inneren Dämme aufbrechen zu wollen. Immer weiter und weiter fühlte ich mich, und alles ging über in etwas anderes – ein sanftes Aufgefangenwerden, ein Eintreten einer wunderlichen und warmen Stille. Die Augen geschlossen – das Mädchen war längst weg – lag ich kurz danach staunend und klar, fühlte mich unendlich geborgen, beschützt, innerlich gehellt und geklärt – und wissend. Ein Friede, den ich gar nicht beschreiben kann (und nicht will, soll ja keine Erweckungsschrift werden) war da.
Und alles war so klar…
Ich wußte um den Sinn des Ganzen – hätte ihn aber wahrscheinlich nicht benennen können. Ich wußte, daß ich gesund werden könne. Daß ich mich entscheiden darf. In tiefem Frieden machte es mir nichts aus, mir vorzustellen, mich beispielsweise vom 14 Stock meiner Zimmers in der WG zu stürzen, weil mir dies als eine gute Todesart vorkam – ein letzter Kick, toller Flug, schnelles Good-Bye. Gleichzeitig wußte ich, daß ich bleiben wollte. Und irgendwie verstand ich, daß es an meiner bewußten Entscheidung lag, daß ich wählen durfte.
Ich wählte. Daraufhin war mir klar, was ich tun mußte. Ich verlangte Papier und schrieb drei Briefe an meine drei besten Freunde mit der Bitte, mir zu helfen, aus diesem Krankenhaus so schnell wie möglich zu fliehen. Noch während des Schreibens fuhr man mich in ein Einzelzimmer – Quarantäne – mit grünen, heiteren Wänden, was ich als ein wunderbares Zeichen deutete.
Ich weiß nicht, ob andere Menschen in tiefen Krisen auch solch einen klar definierten Wendepunkt erlebt haben. Es ist wie die Verdichtung von Allem durch ein kleines Nadelöhr – hin zu einer neuen offenen Weite. Natürlich zweifelte ich auch weiter ab und an – meist war ich aber ruhig und sicher um meine Gesundung. Irgendwie hatte ich meine eigene Verantwortung erkannt und übernommen. Ein Freund, Jakob, teilte mit mir die nächsten zwei Wochen, versorgte mich mit Büchern über alternative Heilmethoden, brachte mir eine orangene Brille, die mir half, in die Mitte zu kommen – ein Arzt befürchtete schon, ich sei noch im Krankenhaus einer seltsamen Sekte beigetreten.
Ich lernte wie von selbst zu meditieren, ohne darüber gelesen zu haben und erfuhr, daß man Kraft, Licht sammeln kann, die der Körper am Dringendsten zum Gesunden braucht. Jemand schenkte mir Heilsteine, eine Heilerin besuchte mich. Ich erfuhr von einem Wunderdoktor in Ulm, plante daraufhin meinen heimlichen Auszug aus der Klinik. Denn es war klar, daß ich nicht die Kraft haben würde, mit Ärzten zu diskutieren, die mich von dem aus ihrer Sicht hunderprozentig tödlich ausgehenden Versuch abbringen würden.
Als ich also genau an meinem 25. Geburtstag für einen Tag hinaus durfte, verlängerte ich diesen Tag einfach in die Unendlichkeit…
Immer wenn ich diese Geschichte erzähle – und das geschieht oft, weil, wie ich mittlerweile weiß, fast jeder einen guten Feund hat, der auch Krebs hat oder hatte – werde ich gefragt: Was war es nun, das Dich gesund gemacht hat? Dann überlege ich. Vielleicht war es der kleine Teil der Chemo (Die Philosophie einer Chemotherapie, basierend auf einem materiell orientierten Weltbild: Chemo zerstört alle menschlichen Zellen – nur die Krebszellen ein bißchen schneller. Gelingt es, den Rest des angegriffenen Körpers wieder herzustellen, hat die Medizin “gewonnen”).
War es der Heilpraktiker, der mir irgendwann gestand, daß er eigentlich noch nie so einen komplizierten Fall gehabt hatte?
War es die Heilerin, deren Energie, die sie mir mit ihren Händen übergab, als warme Liebesstrahlung empfunden habe? War es mein Freund, mit dem ich erstaunliche meditative, kraftvolle gemeinsame Erlebnisse hatte? Die unterstützende Wirkung von Edelsteinen? Der Auszug aus dem Krankenhaus in ein Gesundenhaus?
Der eigene Wille?
Die Öffnung meines Herzens, ein göttlicher Funke, der dies möglich machte?
Vieles habe ich gelernt, vieles hat sich verändert, und noch immer habe ich mal Grippe, ein bißchen Heuschnupfen, Probleme mit den Zähnen. Viel habe ich gerätselt über den Ursprung meiner Krankheit. Krebs: Zellen, die nur noch wachsen, keine Grenzen mehr kennen (mich abzugrenzen war einer der wichtigsten Lernschritte in meinem Leben). Meinen Körper hatte ich nicht gemocht, hatte wahllos irgendwas gegessen, hatte mein Gefühlsleben verschlossen und zeitweise im Grunde schon resigniert. War es Karma aufgrund Verfehlungen in diesem oder dem Leben davor? Hatte meine Seele sich sowieso diese Krise schon vorgenommen (in einer esoterischen Sturm- und Drangzeit war ich davon fest überzeugt)? Reiner Zufall jedenfalls war es bestimmt nicht!
In dieser Krise mit dem Namen Krebs mußte ich vielleicht das erste Mal in meinem Leben selbst eine Entscheidung treffen, die mir niemand abnehmen konnte. Einmal getroffen ging ich den Weg, ohne mich zu sehr mit den medizinischen Daten zu befassen und entschied mich für die einzelnen Schritte eher gefühlsmäßig, aus dem Bauch, dem Herzen heraus.
Was hat sich geändert? Ich höre mehr auf die innere Stimme, lebe das was mich begeistert, bin stetig bestrebt, den Beruf meiner Berufung immer näher kommen zu lassen. Ich habe Spaß gefunden am inneren Weg, zu lernen, zu verstehen, auch wenn es oft schmerzt. Blöde Krisen, Probleme, innere und äußere Nöte melden sich hie und da, aber alles ist in Fluß gekommen, verändert sich beständig, und immer häufiger gelingt es mir, das Ganze manchmal von oben zu sehen und darüber zu staunen, wie vielschichtig und wunderbar das Leben sein kann.
Soll ich jetzt dem Krebs dankbar sein? Nein, weil ich Niemandem diesen Schmerz, dieses Leid wünsche. Ja, weil es wie eine zweite Geburt war, eine ziemlich brutale, aber dafür intensive Geburt in ein bewußteres Leben. Das ist nicht unbedingt einfacher als das Leben zuvor, aber bunter, intensiver, lohnender auf jeden Fall. Und ob ich jetzt keine Angst mehr vor dem Tod habe, werde ich erst feststellen, wenn Gevatter mit seiner Sichel an meiner Türe klopft…
(c) 2004, 2008 Thomas Schmelzer – erschienen in leicht veränderter Form im BIO MAGAZIN 1/2008